Donnerstag, 18. Mai 2017

Flieder oder: Wann ist man bei uns eigentlich heimisch?

FliederFlieder
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Am 30. April - Fliederbüsche in ganz Mitteleuropa beginnen gerade in herrlichstem Violett und Weiß zu blühen - veröffentlicht Bundesinnenminister Thomas de Maizière zehn Thesen zu einer deutschen "Leitkultur" im Qualitätsmedium Bild am Sonntag. In der Einleitung schreibt er: "Nicht jeder, der sich eine gewisse Zeit in unserem Land aufhält, wird Teil unseres Landes." Beim Anblick des üppig blühenden Flieders, der im 16. Jahrhundert erstmalig aus der Türkei nach Mitteleuropa gebracht wurde, frage ich mich: Wie lange muss man denn hier leben, um zu uns zu gehören?

In letzter Zeit habe ich mich verstärkt mit dem Konzept des naturnahen Gartens beschäftigt. Aus ökologischer Sicht ist es sinnvoll, einheimische Pflanzenarten im Garten anzusiedeln, weil zum Beispiel die heimische Tierwelt besser auf sie eingestellt ist. Willst Du Deinen Garten streng mit einheimischen Stauden und Gehölzen gestalten, merkst Du aber schnell, wie einschränkend das sein kann.

Was bedeutet "einheimisch"?


Fliederbüsche prägen und verschönern das Bild mitteleuropäischer Gärten und Parkanlagen und sind kaum aus der Landschaftsgestaltung wegzudenken. Und vielleicht hörst auch Du Willy Fritsch vor Deinem inneren Ohr trällern: "Wenn der weiße Flieder wieder blüht..." Doch der gemeine Flieder (Syringa vulgaris) gilt nicht als einheimisch. Ein natürliches Vorkommen ist für Nah- und Fernost sowie Süd-Ost-Europa belegt. Ein Gesandter brachte das Gewächs 1565 aus der Türkei an den Wiener Hof. Vor allem in Frankreich entstanden daraufhin mehrere Sorten durch intensive Zucht.

Sämtliche unserer bekannten und geliebten Gartenpflanzen haben einen Migrationshintergrund, denn Planzen wandern. Sie verbreiten sich durch Ausläufer oder durch Versamung. Verändert sich das Klima einer Region, ändert sich auch ihre Vegetation, denn nun sind andere Arten optimal an die Umgebung angepasst als zuvor. Nicht zuletzt ist es der Mensch, der Pflanzen von A nach B transportiert. Ziehende Völkerstämme nahmen ihr Saatgut in die neuen Gefilde mit, Kriegsführer und Eroberer brachten exotische Pflanzen mit nach Hause. Botaniker und Gartenliebhaber wollten ihre Entdeckungen auch im heimischen Umfeld erproben.

Welche Pflanzen als einheimisch oder indigen bezeichnet werden, hängt von der zeitlichen Grenze ab, die wir ziehen. Dient das Ende der letzten Eiszeit vor 12.000 Jahren als Zäsur? Auch der heute als exotisch betrachtete Gingko war bei uns einmal zu Hause. 150 Millionen Jahre alte Versteinerungen von Gingko-Blättern belegen das. Als Referenzpunkt eingebürgert hat sich die Entdeckung Amerikas 1492. Indigene Pflanzen hätten sich demnach gänzlich ohne Einfluss des Menschen in einem Gebiet angesiedelt. Wildpflanzen, die vor 1492 durch den Menschen in eine Region gebracht wurden, nennen wir Archäophyten, solche, die nach der Entdeckung der "Neuen Welt" hierherkamen, bezeichnen wir als Neophyten. Aus diesen Wildpflanzen entstanden außerdem zahlreiche Kulturpflanzen durch Züchtung. Doch natürlich ist diese zeitliche Grenze genauso konstruiert und willkürlich wie jede andere auch.

Wer gehört zu unserer Gesellschaft?


Zurück zum Bundesinnenminister und zu der Frage, wer eigentlich zu "uns" gehört. Thomas de Maizière gibt darauf eine einfache Antwort: "Wenn ich aber von 'wir' spreche, dann meine ich zuerst und zunächst die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger unseres Landes."  Mit anderen Worten: Wir gesetzlich Deutsche diskutieren jetzt einmal, was wir als typisch deutsch betrachten und die "Anderen" sollen sich dann an dieser Leitkultur orientieren. 8,7 Millionen Menschen ohne deutschen Pass, also etwa 10 von 100 Personen, erhalten in dem Diskurs kein Gehör. Alleine dadurch, dass diese Personen nicht wählen dürfen, besteht eine beträchtliche Machtasymmetrie. Was wir in unserer Gesellschaft als Norm (per se natürlich schon eine reine Konstruktion) betrachten, handeln wir also unter Ausschluss von zehn Prozent unserer Mitbürger aus. Sieht so ein interkulturelles Miteinander aus? Meint der Minister etwa dies, wenn er von "Kompromiss", "Toleranz" und "Respekt" spricht?

Einen Migrationshintergrund hat in Deutschland laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sogar jede(r) Fünfte. Denn hierzu zählen nicht nur Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft oder diejenigen, die selbst nach 1955 nach Deutschland eingewandert sind. Auch deren hier geborene Kinder werden in diese statistische Schublade gesteckt. Und diesen Stempel bekommen sie zu spüren, wenn sie diskriminiert oder benachteiligt werden, sei es aufgrund persönlicher Vorurteile oder aufgrund unseres Bildungssystems, in dem sich Bildungsarmut von einer Generation zur nächsten vererbt.

Wie lange muss ein Mensch - oder eine Pflanze - hier gelebt haben, bis wir ihn als Unseresgleichen betrachten? Hast Du darauf vielleicht eine Antwort?


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